Rheda-Wiedenbrück (gl). Gebürtige Türkin, Muslimin und erfolgreiche Geschäftsfrau: Diese Kombination dürfte nicht nur bei der CDU, sondern auch in vielen anderen Parteien Seltenheitswert haben – insbesondere auf Führungsebene. So gesehen ist Aysegül Winter eine politische Exotin. „Glocke“-Redakteur Nimo Sudbrock sprach mit der Ratsfrau und stellvertretenden CDUStadtverbandsvorsitzenden im Samstagsinterview über Demokratie, die Lage in der Türkei und die AFD.
„Die Glocke“: Frau Winter, eine CDU-Politikerin stellt man sich für gewöhnlich ganz anders vor als Sie es sind. Spüren Sie Ressentiments, weil Sie nicht dem klassischen CDU-Typus entsprechen?
Aysegül Winter: Ich halte nichts von Schubladendenken. Jeder Mensch ist anders, keiner lässt sich in ein vorgefertigtes Muster pressen. Meine Herkunft kann ich nicht leugnen, ebenso wenig meinen Glauben. Aber ich bekenne mich zu den Werten meiner Partei und zu denen unserer Verfassung. Das kommt bei den Leuten an. Egal, ob sie CDU-Wähler sind oder nicht. Ehrlichkeit ist das Wichtigste im Leben. Wenn man offen und unvoreingenommen auf andere Menschen zugeht, hat man die Sympathien schnell auf seiner Seite. Das kann ich immer wieder feststellen.
„Die Glocke“: Das „C“ steht bei der CDU für christlich. Sie sind Muslimin. Passt das zusammen?
Aysegül Winter: Sehr gut sogar. Ob Christentum, Judentum oder Islam: Alle Weltreligionen einen gemeinsame Werte, gemeinsame Überzeugungen. Wer seinen Glauben richtig lebt, für den sind Nächstenliebe und Menschlichkeit keine hohlen Phrasen, sondern Leitsätze des täglichen Handelns. Insofern unterscheiden sich Christentum und Islam eigentlich kaum. Deshalb sind die Werte, für die die CDU steht, für mich keine Fremdwörter.
„Die Glocke“: Seit wann leben Sie in Deutschland?
Aysegül Winter: Meine Eltern sind Mitte der 1970er-Jahre aus der Türkei nach Deutschland gekommen, der Arbeit wegen. In der Heimat waren die Verdienstchancen damals schlecht. Ich war zehn Monate alt, als ich nach Deutschland kam. Zuerst haben wir in Wiedenbrück gewohnt, später kurze Zeit in Langenberg. Als Mädchen bin in den Burgkindergarten gegangen, der damals noch ausschließlich von katholischen Ordensschwestern betrieben wurde. 1985 zogen wir dann nach Rheda.
„Die Glocke“: Welches Land hat Sie mehr geprägt: Deutschland oder die Türkei?
Aysegül Winter: Ganz eindeutig Deutschland. Ich bin hier aufgewachsen, es ist meine Heimat. Die Türkei ist die Heimat meiner Eltern. Wenn ich dort zu Besuch bin, bin ich für die Menschen dort die Deutsche. Andersherum sehen mich viele Menschen in Deutschland als Türkin, gerade dann, wenn sie mich nicht kennen.
Entscheidung bislang nicht bereut
„Die Glocke“: Apropos kennen: Ihr Popularitätsgrad dürfte in den vorigen Monaten deutlich gestiegen sein. Sie haben innerhalb der Rheda-Wiedenbrücker CDU eine steile Karriere hingelegt.
Aysegül Winter: Letzteres würde ich nicht behaupten. Richtig ist aber, dass ich vor einem guten Jahr als Ersatzkandidatin für Michael Manges in den Stadtrat nachgerückt bin, nachdem er sein Amt aus beruflichen Gründen zurückgegeben hatte. Kurz darauf folgte die Wahl zur Beisitzerin des CDU-Ortsverbands Rheda. Im Mai wurde ich dann zur stellvertretenden Vorsitzenden des CDU-Stadtverbands Rheda-Wiedenbrück gewählt. Alle drei Ämter sind eine große Ehre für mich –und eine enorme Herausforderung zugleich. Ohne Idealismus und großen Zeitaufwand ist das aber nicht zu bewerkstelligen.
„Die Glocke“: Haben Sie Ihre Entscheidung, in die Politik zu gehen, zwischenzeitlich bereut?
Aysegül Winter: Nicht an einem einzigen Tag. Klar, man verliert ganz automatisch ein Stück seiner Privatsphäre. Plötzlich wird man von Menschen in der Stadt angesprochen, die einen erkennen. Sie wenden sich mit Sorgen, Nöten oder auch Wünschen an mich. Aber genau das macht für mich Lokalpolitik aus: Für die Menschen da zu sein und stets ein offenes Ohr zu haben. Man darf als Politiker niemals abgehoben wirken, man sollte auf dem Teppich bleiben.
„Die Glocke“: Zwei Mitglieder haben die CDU-Fraktion in den vergangenen Jahren verlassen...
Aysegül Winter: Ich war schockiert, als vor einiger Zeit in diesem Zusammenhang das Wort „Parteisoldaten“ fiel. Diese Äußerung kann ich absolut nicht nachvollziehen. Ein Ratsmitglied vertritt die Interessen der Einwohner der Stadt. Selbstverständlich hat man gewisse Grundeinstellungen, sonst wäre man nicht in der Partei, von der man als Kandidat oder Kandidatin aufgestellt wurde. Vor Abstimmungen im Rat gibt es in der Regel eine intensive Vorarbeit in Fraktionen und Ausschüssen. Bei wichtigen Entscheidungen erfolgt in den Fraktionen die Diskussion und Meinungsbildung. So läuft es in der Praxis.
„Die Glocke“: Wie sind Sie überhaupt zur CDU gekommen?
Aysegül Winter: Die Frage ist berechtigt, zumal das Herz meines 1992 verstorbenen Vaters für beide Volksparteien schlug: Helmut Schmidt mochte er, weil er sich für Gastarbeiter einsetzte. Aber Helmut Kohl fand er auch klasse. Letztlich war es 2008 mein ehemaliger Schulfreund Theo Mettenborg, der mich zur Mitgliedschaft in der CDU überredete. Eines Tages hielt er mir einen Mitgliedsantrag unter die Nase –und ich habe ihn unterschrieben.
„Kritik kann niemals falsch sein“
„Die Glocke“: Sie kennen den Bürgermeister bereits aus Jugendtagen?
Aysegül Winter: „Unser Theo“ war zwei oder drei Jahrgänge über mir. Wir hatten dieselbe Schullaufbahn. Nach der Matthias-Claudius-Hauptschule sind wir beide aufs Rhedaer Einstein-Gymnasium gewechselt. Und meine Eltern haben oft auf dem Hof seiner Eltern Milch gekauft. Dann haben wir uns lange Zeit komplett aus den Augen verloren – und uns vor mehr als zehn Jahren zufällig wiedergetroffen. Damals war er noch nicht Bürgermeister.
„Die Glocke“: Was bedeutet Ihnen unsere Demokratie?
Aysegül Winter: Sie ist unser höchstes Gut. Ich bin dankbar, dass ich in einem Land aufgewachsen bin und lebe, dessen Grundgesetz Freiheit und Menschenrechte garantiert. Das ist leider nicht überall so. Man muss nur in die Türkei schauen. Dort wurde 1923 durch Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk die Demokratie eingeführt. Jetzt ist diese mehr in Gefahr als jemals zuvor.
„Die Glocke“: Wie meinen Sie das genau?
Aysegül Winter: Das größte Problem in der Türkei ist, dass jegliche Kritik an der Regierung Recep Tayyip Erdogans unerwünscht ist. Das führt zu einer weitreichenden Einschränkung der formal noch geltenden Meinungs- und Pressefreiheit. Dabei können konstruktive Kritik und ein offener politischer Diskurs niemals falsch sein, das zeigt das Beispiel Deutschlands.
„Die Glocke“: Hat der Untergang der Demokratie in der Türkei also längst begonnen?
Aysegül Winter: Das hoffe ich nicht. Es gibt Gegenentwicklungen, die Mut machen. In fast allen großen türkischen Städten hat bei der jüngsten Kommunalwahl ein Kandidat der Oppositionspartei CHP gewonnen. Selbst in Istanbul, der mit 16 Millionen Einwohnern mit Abstand größten Stadt des Landes, ist mit Ekrem Imamoglu jetzt ein CHP-Mann Rathauschef. Und in Erdogans Partei, der AKP, gibt es erste Abspaltungstendenzen. Weil ihm der autoritäre Führungsstil Erdogans missfällt, hat der frühere türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine eigene Partei gegründet.
„Radikalisierung der Gesellschaft macht mir Angst“
„Die Glocke“: Sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch bei uns in Deutschland bedroht?
Aysegül Winter: Die größte Gefahr ist, dass wir uns so an den Luxus der ungehinderten Meinungsäußerung gewöhnt haben, dass manche dieses hohe Gut nicht mehr zu schätzen wissen. Anders lassen sich die Wahlergebnisse der AFD nicht erklären. Denn die Partei steht so ziemlich gegen alles, was unser freies Land ausmacht. Die Radikalisierung der Gesellschaft, die von der AFD befeuert wird, macht mir Angst.
„Die Glocke“: Sie sind schon mal mit dem früheren AFD-Bundesvorsitzenden Alexander Gauland Zug gefahren . . .
Aysegül Winter: Das stimmt. Aber eher unfreiwillig. Ich war beruflich unterwegs. Wir saßen zufällig im selben Abteil. Ich habe ihn erst gar nicht erkannt.
„Die Glocke“: Oft wird behauptet, die Integration von Ausländern gelinge nur unzureichend.
Aysegül Winter: Es gibt sicher noch reichlich Luft nach oben. Aber es gibt auch viele gelungene Beispiele für Integration. Ich bin ganz bestimmt kein Einzelfall.
„Die Glocke“: Wie hat es in Ihrem Fall funktioniert?
Aysegül Winter: Ich habe mich nie fremd gefühlt, und deshalb wurde ich auch nie als jemand wahrgenommen, der nicht dazu gehört. Das war schon in der Schule so. Natürlich muss man auch Kultur und Traditionen des Landes, in dem man lebt, teilen. Integration geht also von beiden Seiten aus, nie nur von einer.
„Die Glocke“: Als Sie 1992 Ihren Ehemann Jürgen Winter heirateten, hatten Sie mit Sissi Fürstin zu Bentheim-Tecklenburg eine prominente Trauzeugin an Ihrer Seite. Wie kam es dazu?
Aysegül Winter: Wir haben uns während eines Konzerts meines Schulchors in der Schlosskapelle kennengelernt. Die Fürstin und ich waren uns auf Anhieb sympathisch. Jahre später, während einer unserer gemeinsamen Teenachmittage auf Schloss Rheda, habe ich sie dann gefragt, ob sie meine Trauzeugin werden möchte. Sie hat spontan zugesagt. Auch deshalb, weil sie gegen die damals in Deutschland aufkeimende Fremdenfeindlichkeit ein klares Zeichen setzen wollte.
„Die Glocke“: Kann man Ihre Familie als eine deutsch-türkische bezeichnen?
Aysegül Winter: Ja. Und das seit inzwischen 27 Jahren. Wir haben zwei Töchter, die das aus ihrer Sicht Beste aus beiden Kulturen mitnehmen konnten. Wir feiern Ostern und Weihnachten, aber auch das Zucker- und das Opferfest. Meine zweite Familie ist das Team in meiner Versicherungsagentur. Dieses hält mir den Rücken frei, damit ich Zeit für die Rats- und Parteiarbeit habe.
„Die Glocke“: Dieses Jahr ist Kommunalwahl . . .
Aysegül Winter: Ich freue mich auf einen spannenden Wahlkampf. Denn der Austausch der verschiedenen Meinungen ist eine Sternstunde der Demokratie. Dass jeder seine Stimme abgibt, wäre mein Wunsch. Egal für welche Partei, sofern sie die Werte unserer Verfassung vertritt. Wer nicht wählen geht, stärkt unfreiwillig nur die extremen Kräfte. Und das kann keiner wollen.